6|44 - 5|45
Ungarisch-Jüdische ZwangsarbeiterInnen
Ein topo|foto|grafisches Projekt
Künstlerbuch 2006, 32 x 23,5 cm, Broschur
296 S., umfangreiche Fotoserien
ISBN 3-85160-065-7, € 46,20
order: mtlitschauer@silverserver.at
Vorwort

Jüdische Familien, die von den nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Ungarn am 19. März 1944 vollzogenen Deportationen nach Auschwitz ausgenommen und zum Zweck der Kompensation des Arbeitskräftemangels nach Österreich deportiert wurden, leisteten zwischen Juni 1944 und April 1945 in den Reichsgauen Wien und Niederdonau in privat oder staatlich gelenkten sowie unter kommunaler oder behördlicher Aufsicht stehenden Unternehmen der Industrie, des Gewerbes sowie der Land- und Forstwirtschaft Zwangsarbeit.

Dieses Buch fokussiert auf die etwa 1200 – von insgesamt etwa 15 000 – Frauen, Männer und Kinder, die 31 Betrieben in 29 Ortschaften im Waldviertel (unter Bezugnahme auf 5 Orte im angrenzenden, 1938 vom 'Deutschen Reich' annektierten tschechischen Gebiet) zugeteilt wurden und deren Arbeits- und Lebensbedingungen nach einer archäologischen Spurensuche und -sicherung in vielschichtigen und komplexen Topografien dargestellt werden.

Den Weg der jüdischen Familien zu kartografieren, war dank der Beiträge jüdischer ZeitzeugInnen – mit allen Lücken und Disparitäten aufgrund der narrativen Subjektivität sowie der unterschiedlich guten Quellenlage – möglich: Durch die kollaborative Politik der ungarischen Führung mit den deutschen Besatzern und die vom Sondereinsatzkommando (SEK) unter Leitung von Eichmann exekutierten Maßnahmen zur 'Endlösung' als Juden stigmatisiert, ihrer bürgerlichen Rechte und ihrer Existenz beraubt, in lokalen Ghettos gefolgt von regionalen Sammellagern an Bahnknoten konzentriert und statt nach Auschwitz nach Straßhof deportiert, wurden die Deportierten nun als ZwangsarbeiterInnen vom Gauarbeitsamt den Betrieben zugewiesen und je nach Bedarf als Verschubmasse an Arbeitskraft immer wieder neu verteilt; wenn nicht wegen zu geringer Leistung als 'Nichteinsatzfähige' bereits gegen Ende 1944 nach Bergen Belsen deportiert, wurden die meisten auf Befehl des in Wien als oberste Kontrollinstanz eingerichteten Außenkommandos des SEK Eichmanns ab März 1945 vor den vorrückenden sowjetischen Truppen nach Theresienstadt und Mauthausen bzw. Gunskirchen 'evakuiert'. In 6 der 29 Ortschaften machte es das humanitäre und widerständige Engagement einiger Weniger möglich, dass sie in Verstecken das Ende des NS-Regimes abwarten und nach der Befreiung – ebenso wie die in den Konzentrationslagern Überlebenden – die Rückkehr an den Ort antreten konnten, von dem sie ein Jahr zuvor deportiert worden waren.

Wegen der zeitlichen Distanz sind es vorwiegend damalige Jugendliche und Kinder, in deren Narrationen die tradierten Erinnerungen der Eltern und Großeltern eingeschrieben sind. Von unschätzbarem Wert waren darüber hinaus Tagebuchaufzeichnungen, die neben den auf die Vergangenheit gerichteten Rückblicken Perspektiven auf die vergangene Gegenwart eröffnen und die anvertraut bekommen zu haben die Arbeit auszeichnet.

Anspruch war, nicht 'die ungarischen Juden' zu thematisieren, schon gar nicht über sie zu schreiben, sondern der Versuch, mit den jüdischen ZeitzeugInnen ihren Weg als vom NS-Regime Verfolgte und zur Zwangsarbeit nach Österreich Deportierte zu rekonstruieren, die Perspektive der AugenzeugInnen an den Orten ihrer Ausbeutung einzubeziehen und aus dem Individuellen und Partikularen der Erinnerungsnarrative eine Lektüre archivaler Dokumente zu unternehmen, die durch neu erschlossene Quellen bereichert werden konnte und differenzierte Sichtweisen entwickeln ließ.

Fragen nach den ideologisch-politischen und ökonomischen Prämissen zu stellen und die sicherheitspolizeilichen und verwaltungsstrukturellen Regelungen des NS-Apparats für den Einsatz jüdischer ZwangsarbeiterInnen darzustellen, war ebenso von Interesse wie die Firmengeschichten der Einsatzbetriebe zu recherchieren, an deren Besitzverhältnissen die rassistischen wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen der NS-Diktatur und ihrer Profiteure sichtbar werden. Verschiebungen in der Eigentümerstruktur von Firmen und Grundbesitz im Zuge der 'Entjudung der Wirtschaft' zugunsten des 'Deutschen Reichs' sowie lokaler Parteigenossen im Jahr 1938 und deren Zuteilung jüdischer ZwangsarbeiterInnen 1944, die manche 'Ariseure' mehrfach und wiederholt an jüdischem Vermögen – sei es Besitz, sei es Arbeitskraft – profitieren ließen, erweiterten den Kontext.
Fragen nach den strafrechtlichen Konsequenzen für die Vergehen an jüdischen ZwangsarbeiterInnen durch lokale Repräsentanten des NS-Macht- und Überwachungsapparats beleuchten die österreichische Rechtssprechung nach 1945. Ob und wie Schikanen, Übergriffe, Misshandlungen gegen/an jüdische(n) ZwangsarbeiterInnen geahndet und Täter nach dem Kriegsverbrechergesetz zur Rechenschaft gezogen wurden, wird anhand der Verfahren beim Volksgericht – so es welche gab und sie nicht mangels Beweisen eingestellt wurden – gezeigt; die Fragwürdigkeit mancher Urteile und deren Begründung lässt sich an ihrer Rhetorik der Verharmlosung der Vergehen und der Verhöhnung der Opfer erkennen.

Als zeitliche Klammer zu 1938 Fragen zum Schicksal der jüdischen Bevölkerung in den 29 Ortschaften zu stellen, die 1944 Einsatzorte der jüdischen ZwangsarbeiterInnen aus Ungarn wurden, machte infolge der zum Teil zerstörten und verloren gegangenen Aufzeichnungen der (jüdischen) Gemeinden detektivische Strategien notwendig, deren Ergebnis keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Ihre verschwundene Tradition im kleinstädtischen und dörflichen Leben im Waldviertel zu skizzieren und die Namen der Opfer der Shoah zu schreiben, vollzieht Gedenken und konstituiert im Verweis auf die Auslöschung ihrer Geschichte an den realen Orten das Buch als Ort der Erinnerung.

Ebenso wurden die recherchierbaren Namen der bei der Deportation nach Straßhof umgekommenen und während der Zwangsarbeit im Waldviertel verstorbenen jüdischen Frauen, Männer und Kinder gesichert, wobei die Suche nach ihren Gräbern auf den Friedhöfen der Einsatzorte mit wenigen Ausnahmen oft kaum mehr als vage Verweise lieferte. Der Mangel an Gedenkkultur, die sich an Grabstellen – unkenntlich oder verschwunden – eben nicht manifestiert, offenbart eine Praxis, die sich selbst in der mahnenden Rhetorik der Inschrift eines Gedenksteins, der an Hunderte infolge unterlassener Hilfeleistung zugrunde gegangene Jüdinnen und Juden aus Budapest erinnern soll, einer Strategie des Ausblendens bedient und Erinnerung als Verdrängung inszeniert.

Die konventionelle Archivrecherche wurde mit unterschiedlichen Strategien und Medien, die für die Recherche und Analyse wie für die Gestaltung des Buchs produktiv gemacht wurden, verknüpft, um das individuelle Schicksal der jüdischen Frauen, Männer und Kinder als ZwangsarbeiterInnen an den konkreten Orten sichtbar zu machen. Strukturell wurden Passagen aus Erinnerungsnarrativen und Zitate verschiedener archivaler Dokumente vom Text der Autorin gerahmt bzw. diskursiv zu Textmontagen gefügt, die neben autonomen Bildserien stehen, die das Referenzfeld der Zwangsarbeit visualisieren. Während präzise konstruierte Farbfotografien in ihrer eigenen Ästhetik die vermeintliche Banalität der gezeigten Landschaften und Architekturen unterstreichen und gerade in ihrer Unauffälligkeit die Rezeption schärfen, zeigen die Textmontagen in ihrer typo- und grafischen Gestaltung, wovon sie handeln bzw. wer spricht. Die buchspezifischen Möglichkeiten der Doppelseite bewusst nützend, werden Text und Bild in ihrer je eigenen Struktur und Medialität voneinander getrennt und im gegenseitigen Verweis miteinander verbunden zu lesen gegeben, so dass das Buch einer vielfältigen Lektüre offen steht.
mtl 05