Diskurs über Sichtbarkeiten

polaroid on cibacopy 1991/92 | 61 x 75 cm

... lassen sich die ersten drei Photos jedoch auch lesen als 'Thesenblätter' zum Zufall des vierten Bildes. Diese Thesen betreffen das Licht, also etwas, was nicht nur, wie Zeit, in der Wahrnehmung eines Gegenstandes, sondern in dessen Gegebensein selbst für das Sehen vorausgesetzt werden muss, genauer: das Leuchten als die Sichtbarkeit von Dingen. Der Bildschirm ist in seiner Inhaltslosigkeit Lichtquelle, zeigt nichts als die eigene Sichtbarkeit [...] Die Hand leuchtet, im Gegensatz dazu, nicht, oder zumindest nicht als primäre Lichtquelle, sondern in der Störung einer solchen [...] Und das Bild des Schädels ist Ergebnis eines zweifachen Leuchtens: eines Durchleuchtens, das [...] die Oberfläche des Durchleuchteten, nämlich des Kopfes zerstört und etwas anderes sichtbar macht [...]; und eines Leuchtens, das das Ergebnis der Durchleuchtung zur Oberfläche macht und so in die Zweideutigkeit versetzt, selbst Lichtquelle zu sein oder opakes, fremdes Licht intensiv reflektierendes Volumen. [...]
Der andere Punkt ist jener, an dem das Sehen sich selbst in den Blick nimmt auf eine so ausschließliche Weise, daß nichts mehr in ihm sichtbar wird, nur noch das nicht sistierbare und damit bedeutungslose Flimmern von Bedeutung als einem Akt des Sehenden und einem im Gesehenen Vorgefundenen in einem: das vierte Bild. [...]
Das Skandieren der Zeit wäre dann der Versuch des Künstlers, sich antizipativ an die 'Stelle' einer Bedeutung zu setzen, die noch hervorzubringen ist und als hervorgebrachte keine weitere In-Blick-Nahme mehr zulässt, könnte nur mit dem Anspruch auf Einmaligkeit geschehen. Jedes über das Kunstwerk Reden, d. h. es als Allgemeines Behandeln, könnte so nichts anderes sein als dessen Zerstörung, Denunziation eines Mißglückens, Anzeichen dafür, daß nicht gut genug verschlossen wurde, was der Betrachtung hätte entzogen bleiben müssen. Solches Scheitern läßt sich nur dann hintanhalten, wenn es gelingt, das Kunstwerk gleichsam als ungeöffnetes der Sprache zugänglich zu machen und es so der Betrachtung gegenüber zu immunisieren. Und dieses Gelingen ist auf viel radikalere Weise auf den Betrachter angewiesen, als das Erfassen des Kunstwerkes in seiner Bedeutung, d. h. als dessen Wahrnehmung, nämlich davon, daß dieser unabhängig von jedem Verstehen bereit oder in der Lage ist, dem Kunstwerk Bedeutsamkeit zuzusprechen, ohne diese als konkrete Bedeutung der Allgemeinheit der Sprache unterzuordnen; daß er eine Bezeichnung für es zuläßt, die es als in der Sprache nicht faßbares einzelnes bewahrt. Das Skandieren der Zeit vollzieht sich in der Antizipation eines Titels. more
aus "Diaphrase" von Leonhard Schmeiser 1992